Wann hast du dein Büro zum letzten Mal verlassen, um mit einem deiner Kunden zu sprechen?
Nein, nicht als Unterstützung in einem Vertriebsgespräch oder um ein technisches Problem zu lösen.
Wann hast du zuletzt einen Kunden NUR zu dem Zweck getroffen, mehr über seine Herausforderungen, Bedürfnisse und Ziele zu erfahren?
Gefühlte 50 Prozent aller Produktmanager verzichten komplett auf solche Kundeninterviews – oder Lern-Gespräche, wie ich sie nenne!
Noch weniger führen sie regelmäßig oder sehen sie als Kernaufgabe ihres strategischen Produktmanagements.
Sie verlassen sich lieber auf ihr Bauchgefühl und auf Informationen aus zweiter und dritter Hand. Dabei ist es doch eine Binsenweisheit, dass Produktmanager tiefes Marktwissen haben müssen!
Falls du nicht davon überzeugt bist, dass du unbedingt DIREKT mit Kunden sprechen musst, lies dir bitte zuerst diesen Artikel über Lern-Gespräche durch.
Warum fällt es so vielen Produktmanagern schwer, Kundeninterviews zu führen?
Lerne 11 mal mehr und mal weniger berechtigte Ausreden von Produktmanagern kennen – und was du tun kannst, wenn du dich in einer der Ausreden wieder erkennst.
1. „Der Vertrieb lässt mich nicht mit unseren Kunden reden.“
Der Klassiker schlechthin! Der Vertrieb als “Gatekeeper” hält die Hand auf den Kundendaten und missbilligt jeden unautorisierten Kundenkontakt.
Ein echtes Problem für Produktmanager – solange sie keine Unterstützung durch das Management haben. In manchen Fällen kann bereits ein gemeinsames, klärendes Gespräch mit den Vorgesetzten helfen.
Du bist bei Kundenterminen dabei? Frage die Kunden in der Kaffeepause oder nach dem Termin, ob sie dir zu einem späteren Zeitpunkt für ein Interview zur Verfügung stehen würden. Auf Veranstaltungen kannst du ebenfalls Kunden und Interessenten ansprechen.
Bekommst du deren persönliche Zusage, brauchst du keine extra Erlaubnis. Die Kunden “gehören” nicht dem Vertrieb, selbst wenn er das so sehen mag.
Du solltest den Vertrieb jedoch informieren. Erkläre ihnen, worum es geht; dass du nicht ihre Arbeit kontrollieren oder den Kontakt an dich reißen möchtest. Teilst du deine Erkenntnisse aus den Gesprächen mit den Vertrieblern, werden sie erkennen, dass sie von deinen Aktivitäten profitieren.
2. „Ich habe keinen Zugang zu unseren Nutzern und Kunden.“
Du kommst nicht an die Daten aus dem Verkauf, dem Service oder Support? Weil du keinen Zugriff auf deren IT-Systeme hast oder dir die Berechtigung fehlt?
Daran sollte es wirklich nicht scheitern! Ergreife die Initiative und stoße eine bessere Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen an – als Produktmanager bist du schließlich zum Teamplayer verdammt.
3. „Unsere Datenschutzregeln erlauben mir nicht, Nutzer und Kunden zu kontaktieren.“
Klingt komisch, ist im Zeitalter der DSGVO aber gar nicht so abwegig.
Um Kunden oder Nutzer für ein Interview zu kontaktieren, brauchst du deren explizite Zustimmung (zum Beispiel zur “Kontaktaufnahme zu Werbe- und Marktforschungszwecken”).
Holt ihr diese Zustimmung eurer Kunden bisher nicht ein, dann arbeite mit den zuständigen Abteilungen daran, dies in Zukunft zu tun oder nachzuholen.
Versuche, über andere Wege, mit euren Kunden in Kontakt zu kommen. Starte einen Aufruf über soziale Medien, eure Webseite oder euren E-Mail-Newsletter. Veranstalte ein Kunden-Event. Lass dich von deinem eigenen Kontaktnetzwerk weiterempfehlen.
4. „Ich bin mit anderen, wichtigen Aufgaben beschäftigt.“
Wirklich? Dann wüsste ich gerne, welche Aufgaben wichtiger sind als Markterkenntnisse zu sammeln und Produktinnovationen zu entdecken.
Es ist schon klar: Als Produktmanager ist dein Kalender immer voll und du musst dich um alle Aufgaben kümmern, die nicht bei drei auf den Bäumen sind.
Wenn du allerdings keine Zeit mehr hast, mit Kunden zu sprechen, dann hast du deine Rolle als Produktmanager nicht wirklich verstanden.
Das muss ich leider so deutlich sagen!
Ohne regelmäßigen Kundenkontakt wirst du kein erfolgreicher Produktmanager. Es darf einfach keine wichtigere Aufgabe geben!
Setze neue Prioritäten, verbessere dein Zeitmanagement und plane dir jede Woche Zeit für Kundeninterviews ein.
5. „Ich bin schon regelmäßig in Vertriebsgesprächen dabei und rede dort mit Kunden.“
Das mag sein. Aber kannst du Vertriebsgespräche wirklich dafür nutzen, offen mit Kunden zu reden und von ihnen zu lernen?
Definitiv nicht! In einem Vertriebstermin geht es einzig und allein um den erfolgreichen Abschluss. Du darfst weder „deine“ Fragen stellen noch irgendein Thema mit dem Kunden diskutieren, das nicht direkt mit dem Verkauf verbunden ist.
Technisch gesehen sind Vertriebstermine natürlich Kundenkontakt. Bei deinem Ziel, Kunden besser zu verstehen und erfolgreiche Produkte zu entwickeln, helfen sie dir kaum.
6. „Marketing, Vertrieb und Kundenservice leiten mir regelmäßig Kundenfeedback weiter.“
Es ist toll, dass ihr so gut zusammenarbeitet und dich die anderen Abteilungen unterstützen.
Doch diese Abteilungen sammeln das Feedback nicht primär aus deiner Produktmanager-Perspektive. Sie entscheiden anhand ihrer eigenen Kriterien, was relevant ist und was nicht. Und sie haben jeweils nur mit einer Teilmenge eurer Kunden zu tun.
Das Feedback, das du weitergeleitet bekommst, wurde bereits gefiltert und interpretiert. Du weißt nicht, wie es zustande kam und kannst keine Rückfragen stellen.
Egal, wie viele und wie detaillierte Daten du aus zweiter und dritter Hand bekommst: Sie sind niemals ein Ersatz dafür, dass du selbst Kundeninterviews führst und dir ein eigenes Bild machst.
Findest du interessante Aussagen in den Daten, bitte die jeweilige Abteilung, für dich den direkten Kontakt zum betreffenden Kunden herzustellen. Dann kannst du dem Kunden weitere Fragen stellen.
Hier bekommst du praktische Tipps für die Zusammenarbeit mit dem Kundenservice.
7. „Kundeninterviews gehören nicht zu meinem Aufgabengebiet.“
Wenn das so ist – dann ist das ab sofort anders! Wenn deine Rolle irgendetwas mit “erfolgreiche Produkte entwickeln” zu tun hat, dann gehören Kundeninterviews definitiv zu deinen Aufgaben. Plane sie fest ein.
Es mag sein, dass deine Stellenbeschreibung andere Schwerpunkte hat oder dein Vorgesetzter von dir erwartet, dich hauptsächlich um anderes zu kümmern. Rede mit ihm, definiert deine Rolle und Ziele neu, und besprecht, wie du dich in Richtung strategisches Produktmanagement weiterentwickeln kannst.
8. „Es hat bis jetzt auch ohne gut funktioniert.“
Gratulation, du bist ein echter Glückspilz!
Dazu fällt mir der Witz ein: Was sagt einer, der vom Hochhaus springt, während er am ersten Stock vorbei fällt? – „Bis jetzt ist alles gut gegangen…“
Vielleicht bist du auf einen Markt mit wenig Wettbewerb aktiv, vielleicht zehrt dein Unternehmen von seinem guten Ruf und ihr habt eine sehr treue oder anspruchslose Kundschaft und alles läuft wie von selbst…
Und selbst wenn du denkst, dass du erfolgreich sein kannst, ohne Kundeninterviews zu führen – könntest du nicht noch viel erfolgreicher sein, wenn du regelmäßig mit Kunden redest?
9. „Wir kennen den Markt seit vielen Jahren und wissen genau, was unsere Kunden wollen.“
Thomas Watson, der CEO von IBM, meinte 1943, dass es “einen Weltmarkt für vielleicht fünf Computer” gäbe. Und noch 1977 meinte Ken Olson, Chef der Computerfirma Digital Equipment Corp.: „Es gibt keinen Grund, warum irgendjemand einen Computer in seinem Haus haben wollen würde.“
Offensichtlich wussten diese Herren ganz genau, was der Markt und die Kunden wollen…
Ist euer Wissen über die Kunden wirklich aktuell und euer Blick auf den Markt ungetrübt?
Im besten Falle ist dieses Wissen einige Jahre alt und stammt aus der Zeit, als ihr noch mit euren Kunden geredet habt.
Im schlimmsten Falle bildet ihr euch alles ein, redet euch die Lage schön und seid auf dem besten Wege, Produkte für einen Markt zu entwickeln, den es überhaupt nicht gibt.
Wäre es nicht mal wieder Zeit, euer Wissen anhand der Realität zu überprüfen?
10. „Für die Ergebnisse interessiert sich sowieso niemand.“
Das stimmt einfach nicht! Kein Produkt-Chef oder CEO, der halbwegs bei Verstand ist, wird nachweisbare und repräsentative Meinungen von Kunden einfach ignorieren.
Aber wurden eure Produktentscheidungen bisher nicht immer aus dem Bauch heraus oder nach dem HiPPO-Prinzip („highest paid person’s opinion“) getroffen?
Dann liegt das daran, dass du als Produktmanager deinen Job noch nicht richtig gemacht hast. Es ist deine Aufgabe, mit Kunden zu reden und deine Erkenntnisse intern zu teilen.
Fange ab sofort damit an! Baue Kundenstatements und gewonnene Erkenntnisse in deine Präsentationen mit ein. Berichte deinen Kollegen und Vorgesetzten (zum Beispiel im wöchentlichen Statusmeeting) regelmäßig von deinen Gesprächen und Erkenntnissen.
Sorge dafür, dass in Zukunft keine Entscheidung mehr getroffen wird, ohne vorher die Kunden „anzuhören“.
Lerne mehr über die möglichen Gründe, warum deine Produktinitiativen bisher vom Management nicht unterstützt wurden.
11. „Ich kann nicht mit allen Kunden reden. Und wenn ich nur mit ein paar rede, ist das doch nicht aussagekräftig.“
Zum Schluss nochmal ein echtes Schwergewicht an Ausrede, das ich häufig höre. Der Einwand klingt plausibel, greift aber zu kurz.
Zunächst einmal: Selbst wenige, vielleicht nicht repräsentative Erkenntnisse sind besser als gar keine, oder?
Und mit jedem zusätzlichen Kunden, mit dem du sprichst, wird dein Bild vollständiger. Irgendwo musst du anfangen.
Doch die Anzahl der Kunden mit denen du sprichst, ist überhaupt nicht so wichtig. Es geht darum, mit den “richtigen” Kunden zu sprechen.
Als strategischer Produktmanager hast du deine Zielmärkte in Segmente eingeteilt, deine Hauptkunden- und -nutzergruppen auf Basis von Persona identifiziert und beschrieben.
Nun brauchst du nur mit einigen wenigen Kunden aus jedem Segment oder zu jeder Persona reden, um repräsentative Erkenntnisse zu gewinnen. Du wirst feststellen, dass du schon nach wenigen Gesprächen Muster entdeckst und sich die Aussagen von Kunden einer Persona oder innerhalb eines Segments ähneln.
Sprich jede Woche mit zwei oder drei ausgewählten Kunden und nach kurzer Zeit wirst du aussagekräftige Ergebnisse gewonnen haben, auf denen du aufbauen kannst.
In meinem umfangreichen Leitfaden zu Lern-Gesprächen erfährst du mehr darüber.